Das Geheimnis der Standarte
Eine Geschichte aus der Anfangszeit der Vereinsgemeinde
Schon bald nach der Gründung des Sängerbundes der Vereinsgemeinde
Leimen im Jahr 1903 war unter den Mitgliedern der Wunsch nach einer eigenen Vereinsfahne laut geworden. Mangels eigener Mittel zur Erfüllung dieses Wunsches entstand die Idee, die Vereinsfahne des Gesangsvereins der Mannheimer Portland-Cementfabrik zu erwerben, da dieser sich in der Auflösung befand. Die Fabrik gehörte seit 1901 durch Fusion zu den Portland-Cement-Werken Heidelberg und Mannheim und war 1902 stillgelegt worden. Man erhielt die grundsätzliche Offensichtlich Zusage und ging davon aus, dass sich die Fahne kostengünstig umarbeiten ließe. Ebenso hoffte man das Vereinsabzeichen der Mannheimer zu bekommen.
Als im März 1904 auf der Einladung des Arbeitervereins Wiesloch zu dessen 40-jährigen Jubiläum angefragt wurde, ob der Sängerbund mit Fahne erscheine, wurde sofort der Antrag gestellt:
»… der Vorstand solle einmal an geeigneter Stelle in Mannheim anfragen, ob unser Verein so bald wie möglich in den Besitz der uns versprochenen Fahne des alten Mannheimer Gesangsvereins gelangen könne.« (Protokoll vom 27.03.1904)
Die Liquidierung des Mannheimer Vereins zog sich aber hin, so dass der Erwerb dieser Vereinsfahne zunächst scheiterte. Um etwas Einheitlichkeit im Auftritt zu erreichen, gab der Vorstand am 1. Mai 1904 immerhin einen eigenen Entwurf eines Vereinsabzeichens in Produktion.
Sparen für die Vereinsfahne
Es brauchte ein ganzes Jahr (1905), ehe ein neuer Vorstoß für eine Vereinsfahne erfolgte. Auf Vorschlag von Philipp Grieshaber sen. sollte ein Font mit dem Ziel eingerichtet werden, innerhalb eines Jahres daraus eine Fahne bezahlen zu können.
»Eine sofortige Tellersammlung ergab den Betrag von 9.30 Mk.«
Zur Aufbesserung der Fahnen- und der Vereinskasse beschloss man 21. Juli 1907, ein zweites Waldfest auf dem Gossenbrunnen abzuhalten. »Eingeladen wurden sämtliche Vereine Leimens ausgenommen die sich politisch oder religiös betätigten.«
Trotz dieser Bemühungen konnte erst am 24. Mai 1908 die Fahnenweihe mit einem ersten großen Fest zum 5-jährigen Vereinsbestehen stattfinden. Die Fahnenschleifen waren von den „Frauen und Jungfrauen“ der Vereinsmitglieder gestiftet worden. Unter großer Anteilnahme der Bevölkerung Leimens, aller Leimener Gesangs- und Sportvereine, sowie zwölf auswärtiger Vereine, wurde die Weihe begangen. Die Ehre des ersten Fahnenträgers kam Philipp Grieshaber zu. Als Fähnriche waren Ludwig Grieshaber und Karl Silbermann ernannt worden. Die Festveranstaltungen mussten aus Platzgründen an verschiedenen Orten ablaufen. Im Gasthaus „Zum Erbprinzen“ feierten die Sänger am Vorabend bei einem Festbankett. Am Sonntagabend fand der Festball für Mitglieder im „Erbprinzen“ und für Gäste in den Gasthäusern „Zum Mayerhof“ und „Erle“ statt.
Feststeht, dass die Fahne aber schließlich doch übernommen wurde. Im Festbuch zum 10-jährigen Stiftungsfest 1913 erfahren wir, dass im Dezember 1910, nach der satzungsgemäßen Auflösung des Mannheimer Vereins, also nach der Fahnenweihe, die „vorhandene Standarte mit drei auf dem Gesangswettstreit errungenen Medaillen sowie verschiedene Liederbücher aus den Badischen Bundeslieferungen und andere Gesangsutensilien“ übernommen wurden.
Die genannten Gegenstände sind im Archivbestand des Sängerbundes der Vereinsgemeinde noch teilweise erhalten. Von der Standarte fehlt aber zunächst jede Spur. Wo ist also die Mannheimer Vereinsstandarte geblieben und wie sah die Leimener Vereinsfahne 1908 wohl aus? Der Leimener Gesangverein stand mit den anderen Werksvereinen der Portland-Cement-Werke Heidelberg und Mannheim in Kontakt. Zu diesen gehörten mittlerweile Werke in Nürtingen, Weisenau, Ingelheim, Diedesheim und Offenbach. In Diedesheim hatte sich nach der Übernahme 1904 ein Arbeitersängerbund gegründet. Nach der Stilllegung des Werks übernahm die Gesangsabteilung in Leimen zahlreiche Noten des Vereins. In Offenbach war durch das frühere Vereinsmitglied Wirdmann ebenfalls ein Arbeiterverein gegründet worden. Die Leimener Sänger waren zur Weihnachtsfeier am 2. Januar 1909 in Offenbach eingeladen, „… um durch Vortrag einiger Lieder zur Verschönerung ihrer Feier beigetragen, und zur Anregung ihrer Mitglieder auch in ihren Reihen eine Gesangsabteilung zu bilden.“
Dem Rätsel auf der Spur
Die Fahne besteht aus bestickter Industrieseide. Die prächtige Vorderseite trägt den Schriftzug „Vereinsgemeinde Cementwerk Leimen“ Die Jahreszahlen stehen für das Gründungsjahr 1903 und die Fahnenweihe 1908. Die Gestaltung nimmt Anleihen in der griechischen und römischen Antike in typisch klassizistischer Tradition aber auch im Jugendstil seinerzeit.
Die Ornamentik zeigt Arkanthus-Blätter, wie sie von Korinthischen Säulen bekannt sind sowie Eichenlaub. Auffällig ist hier der stilistische Unterschied des Eichenlaubs zur Rückseite.
Die Lyra bzw. Kithara aus der griechischen Antike (griechisch κιθάρα – heute im Griechischen auch Bezeichnung für die klassische Gitarre) ist ein häufiges Symbol in Gesangsvereinen jener Zeit. Sie war eines der vornehmsten Instrumente, das vorzugsweise zu feierlichen Anlässen gespielt wurde, besonders beim Kult zu Ehren des Gottes Apollon.
Sehr auffällig prangt in der Mitte das Großherzoglich Badische Staatswappen mit zwei Greifen mit Lorbeer. Ebenfalls ein stilistischer Unterschied zum Lorbeer auf der Rückseite. Die Königskrone betont die Monarchietreue. Dazu mass man wissen, dass der damalige Vorstand der Portland-Cement-Werke Heidelberg und Mannheim, Friedrich Schott ein Verehrer des Großherzogs war und in der zweiten Kammer des Badischen Landtags saß. Schott hatte die Gründung der Vereinsgemeinde maßgeblich gefördert, vielleicht sogar inspiriert.
Diese Seite der Fahne scheint somit ein in sich geschlossenes, authentisches Bild zu ergeben.
Die Rückseite besteht aus einem groben Webfaden. In der Mitte ist die Vikoria mit Lorbeerkranz abgebildet. Sie ist eingebettet in zwei Wappenschilde in königlichen Farben (rot-purpur, blau). Links die schon genannte Sonne als Marke der Mannheimer Fabrik, rechts der Löwe, aus dem Firmenlogo des ehemaligen Heidelberger Zementwerks. Zeit typisch finden sich auch hier Arkanthus-Blätter, statt dem Eichenlaub auf der Vorderseite finden wir jetzt Lorbeerblätter. Wie schon erwähnt unterscheiden diese sich im Stil von der Vorderseite. Umrahmt wird das Motiv der Viktoria von einem Leitspruch: „In Einheit stark“ (Zusammenhalt), „in Arbeit treu“ (Fleiß), „Im deutschen Liede“ (Pflege des deutschen Liedguts), „im Liede frei (Gesang macht frei)“.
Unter dem Hauptmotiv ist der Reichsadler des Deutschen Kaiserreichs, in der Form wie er zwischen 1889 und 1918 verwendet wurde, platziert. Auf den beiden Fahnenseiten sind daher zwei politische Bekenntnisse ablesbar: Treue zum Großherzogtum Baden und zum Deutschen Kaiserreich. Sowohl der Leitspruch, als auch die politischen Bekenntnisse sind nicht im Stile der sozialistischen Arbeiterbewegung verfasst. Vielmehr sind sie der „wirtschaftsfriedlichen“ Arbeiterbewegung, die sich später in den Gelben Gewerkschaften zusammenschließt, zuzuordnen. In der Zementindustrie war die Arbeiterschaft nur schwach organisiert und kaum zu Arbeitskämpfen bereit.
Die mögliche Auflösung
Wie geschildert ist gesichert, dass der Sängerbund der Vereinsgemeinde die Fahne des Gesangvereins der Mannheimer Cementfabrik, übernommen hatte. Wo sie geblieben ist, soll im Folgenden geklärt werden.
Die Einheit der Fahne ist hinsichtlich der stilistischen Unterschiede von Vorder- und Rückseite fraglich. Stilunterschiede wurden bereits ein den Arkanthus- und Eichenblättern angedeutet. Dies bedeutet, dass die beiden Seiten unterschiedlichen Ursprungs sein könnten. Möglicher Weise stand nur die Vorderseite und eine einfarbige Rückseite zur Fahnenweihe 1908 bereit. Die Vorderseite weist durch die Aufschrift auch einen eindeutigen Bezug zum Verein auf. Auf der Rückseite geben lediglich die Wappenschilde, durch die Mannheimer Sonne und den Heidelberger Löwen einen Bezug zu den Portland-Cement-Werken Heidelberg und Mannheim. Das fusionierte Unternehmen kombinierte die Warenzeichen in der Folge häufig.
Betrachtet man nun die Wappenschilde genauer, so zeigt sich ein geringer Farbunterschied in den Blautönen. Die Seide im linken Wappenschild wirkt zudem glatter. Es drängt sich die Frage auf, ob das rechte Wappenschild nicht umgearbeitet, also überstickt worden ist?
Die Mannheimer Cementfabrik führte zwei Warenzeichen: die Sonne und drei im Dreieck angeordnete rote Sterne. Letztere wurde als Exportmarke für den Überseemarkt genutzt. Nach der Jahrhundertwende brach der Export nach Übersee stark ein. Nimmt man an, dass im rechten Wappenschild einst die Exportmarke abgebildet war, die um 1910 nahezu bedeutungslos wurde, konnte diese leicht weggelassen werden. Ein weiterer Aspekt ist der Farbunterschied im blauen Stickgarn. Mit großer Wahrscheinlichkeit ist die Rückseite der Vereinsfahne die umgearbeitete Fahne des aufgelösten Gesangsvereins der Mannheimer Portland-Cementfabrik.